Kehrtwende für das Sanierungsgebiet
Die Finanzierung von Stadtentwicklung durch neoliberale Förderprogramme gehört auf einen kritischen Prüfstand
Der Fokus der 2011 vom Abgeordnetenhaus zu Berlin förmlich festlegten Sanierungsgebiete – zu dem auch das Sanierungsgebiet Karl-Marx-Straße/ Sonnenallee gehört – aber auch das Konzept der BerlinStrategie 2030, das einen Transformationsraum „Stadtspree und Neukölln“ entwirft und die große Zahl von Quartiersmanagementgebieten im Norden Neuköllns sind Ausdruck von Investitionsentscheidungen, die sich vorrangig an den Ertragserwartungen der Immobilienwirtschaft orientieren.
Kommunalpolitisch umsorgt werden die Bedürfnisse gehobener Einkommensgruppen und hoch bezahlter Wissensarbeiter/innen, in deren Interesse man Gentrifizierungsprozesse einleitet und aktiv forciert. (‚Jung, bunt und erfolgreich‘).
In den stadtpolitischen Fokus geraten zudem vermehrt Unternehmens- und Eigentümerinteressen, wofür offenbar auch ein Großteil des Mitteleinsatzes an Geldern, Personalressourcen und Publikationen aufgebracht wird. Von ähnlichen Erfahrungen berichten auch die Aktiven aus den Sanierungs- und QM-Gebieten in Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg, Lichtenberg und Spandau. In Charlottenburg wird bereits die nächste Phase dieses Konzepts sichtbar, wo im Business Improvement District (BID) Ku’damm Tauentzien begonnen wird, Aufgaben der Sicherheits- und Ordnungspolitik an private Unternehmen zu übergeben.
Soziale Aspekte werden zu wenig berücksichtigt
Die Kehrseite dieser Entwicklung ist, dass die Auswirkung der städtebaulichen Förderung auf die im Sanierungsgebiet bereits lebenden Bevölkerungsschichten nicht ausreichend berücksichtigt wird. So werden in Folge soziale wie räumliche Selektionsprozesse eingeleitet bzw. in ihrer Konflikthaftigkeit verstärkt und es erfolgt eine aktive Politik gegen den ärmeren Teil der Stadtbevölkerung. Bevölkerungsteile, die sich in einer schwächeren Ausgangslage befinden, wie Mieterinnen, Senioren, Arbeitslose, Migrantinnen, Geringverdienende haben kaum Nutzen von diesem Mitteleinsatz. Teilweise werden sie sogar zielgerichtet durch Positionierungen, Schriftstücke des Bezirksamtes, der entsprechenden Sanierungsbeauftragten bzw. beauftragten Dienstleister abgewertet oder stigmatisiert.
Der Umbau des lokalen Wohlfahrtsstaats, der Rückzug aus dem sozialen Wohnungsbau und die Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände haben in den letzten Jahren bereits zu einer Zunahme sozialer Ungleichheit und zu einer Verdrängung einkommensschwacher Bevölkerungsschichten geführt – die hieraus resultierenden Folgekonflikte werden im Zuge der getroffenen Maßnahmen in Sanierungsgebieten verfestigt, anstatt Benachteiligung abzubauen und soziale Inklusion zu fördern. Die zunehmende Polarisierung der Einkommen und Vermögen ist in Deutschland seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zu beobachten und ist in den Stadtregionen besonders ausgeprägt.
Demokratie-Abbau
Die hier konstatierte Unfähigkeit von Politik und Verwaltung, auf soziale Probleme und politische Forderungen aus weiten Teilen der ‚anwohnenden‘ Bevölkerung angemessen reagieren zu können, droht letztlich die gesellschaftliche Akzeptanz kommunaler Selbstverwaltung zu unterminieren und zum Verlust der Legitimität demokratischer Entscheidungsprozesse beizutragen.
Ob man als Betroffene in einem Sanierungsgebiet mit angemessenen Beteiligungsformaten rechnen kann und ob die dann auch tatsächlich ernsthaft abgewogen werden, hängt vom Glück, vom Bildungsfaktor und auch von den individuellen, persönlichen Vorlieben der Verwaltung und der Politiker vor Ort ab. Wozu, so könnten wir uns als Anwohner/Innen fragen, sollen wir uns noch an demokratischen Entscheidungsprozessen beteiligen, wenn die politische Richtung in Sanierungsgebieten auf Standortpolitik, Wettbewerbsfähigkeit und Privatisierung von vornherein festgelegt ist und uns gegenüber als alternativlos charakterisiert und auch durchgesetzt wird?
Die bisher versäumte Aktualisierung der AV Beteiligung der Betroffenen hat zu einem unübersichtlichen Wirrwarr und dem Verlust verbindlicher, rechtlicher Standards geführt.
Es lässt sich erkennen, dass von der AV Beteiligung (1995), über die Leitsätze zur Stadterneuerung (2005), zum Rundschreiben IV Nr. 1/2017 Ziele für eine sozialverträgliche Stadterneuerung (2017) eine fortwährende Deregulierung von formalen Beteiligungsrechten stattgefunden hat.
Ökologische und naturschutzfachliche Aspekte werden zu wenig berücksichtigt
Die massiven Defizite bei der Umsetzung städtebaulicher Maßnahmen betreffen auch die Belange des Natur- und Artenschutzes und sind Ausdruck der Missachtung demokratisch verbürgter Grundrechte auf eine nachhaltige Entwicklung. Bestehende Naturschutzgesetze geraten bei Sanierungs- und Freiraumplanungen systematisch ins Hintertreffen, die soziale Bedeutung von urbaner Biodiversität wird ignoriert, wenn entsprechende Schutzmaßnahmen den Geschäfts- und Verwertungsinteressen sowie den Zielen sozialräumlicher Kontrolle entgegenstehen.
Abgrenzende, ausgrenzende sowie „problemverlagernde“ Praktiken, wie zum Beispiel die Erklärung von öffentlichen Erholungs- und Naturerfahrungsräumen zu Angsträumen, intensivieren Segregationsprozesse und unterminieren den produktiven Austausch zwischen unterschiedlichen Stadtteilen sowie die Lebensqualität und das Wohlbefinden ihrer Bewohner/Innen.
Eine konzeptionelle Neuausrichtung ist notwendig
Dem Governance-Ansatz, dass es gar nicht das Ziel sein bräuchte, das Maß von Kriminalität, Armut, Erkrankung, Verrohung in der Gesellschaft zu senken und schließlich zu beheben, sondern dass lediglich Armut unsichtbar gemacht bzw. so in Stadtgebieten verteilt werden soll, dass Konflikte mit minimalem staatlichen Mitteleinsatz handhabbar sind (neoliberales Stadtteilmanagement), liegt ein zynisches Menschen- und Gesellschaftsbild zu Grunde.
Anstatt dem Grundgedanken des Programms „Soziale Stadt“ zu folgen und Viertel ‚aufzuwerten‘, indem den dort wohnenden und arbeitenden Menschen Chancengleichheit garantiert wird, verfolgt eine neoliberale Stadtpolitik das Ziel, einzelne Stadtquartiere über mehrere Jahrzehnte ‚verarmen‘ zu lassen, um dann in einer konzentrierten Sanierungsphase maximale Profiterwartungen zu bedienen und demokratische Partizipation auszuhebeln. Dies kann keine nachhaltige und sozial verantwortungsvolle Stadtentwicklung darstellen.
Die häufige Übertragung von ursprünglich klassischen Aufgaben des Staates in die Hände para-staatlicher Unternehmen muss einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Erforderlich wären hierzu auch veränderte politische Prioritäten. Die Prioritäten lägen dann nicht bei finanzstarken Partikularinteressen, sondern zielten auf das Gemeinwohl aller städtischen Bewohnerinnen und Bewohner.
Quellen / Nachweise:
[1] – BerlinStrategie 2030 – in der Fassung von 2014, https://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/stadtentwicklungskonzept/de/berlinstrategie/stadtspree_neukoelln.shtml
[2] – Standtort Exposé – [Aktion!] -Karl-Marx-Straße- https://www.kms-sonne.de/zentrum/standortexpose
[3] – Citymanagement Karl-Marx-Straße – https://www.kms-sonne.de/zentrum/citymanagement
[4] – Fassadenleitfaden – https://www.kms-sonne.de/service/fassadengestaltung/
[5] – Quartiersmanementgebiete in Berlin – https://www.quartiersmanagement-berlin.de/quartiere.html
[6] – Twitter Kanal d. Friedel54-Kollektiv – https://twitter.com/kiezladen_f54/status/1201853601712418816
[7] – Twitter Kanal d. ElWe44 – https://twitter.com/elbeeckeweigand/status/1088365273172844544
[8] – bpb: Etwas besseres als Beteiligung, Moritz Rinn – http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/stadt-und-gesellschaft/216888/partizipationskritik-in-der-stadtentwicklungspolitik
[9] – NK44 – Randnotizen März 2010 – http://nk44.blogsport.de/informationen/randnotizen-maerz-2010/
[10] – BID Ku’damm Tauentzien – https://www.bid-kudamm-tauentzien.de/
[11] – Arte Doku, Wem gehören unsere Städte? – https://www.youtube.com/watch?v=6FPUboLbtK
[12] – philou.: Urbane Angsträume und rechte Diskurse, Sonja Gaedicke – http://philou.rwth-aachen.de/?p=1886
[13] – SozTheo: Raum und (Un-)Sicherheit, Christian Wickert – https://soztheo.de/stadtsoziologie/raum-und-un-sicherheit-staedtebauliche-kriminalpraevention/
[14] – The Guardian: Hostile architecture: an uncomfortable urban art – in pictures – https://www.theguardian.com/cities/gallery/2018/aug/21/hostile-architecture-an-uncomfortable-urban-art-in-pictures